Wood | Von Klaus Härtel

Philippe Boucly über Jean-Pierre Rampal

Boucly Rampal
Foto: Peter Meisel

Wenn Sir Simon Rattle in der Saison 2023/24 das Symphonieorchester des Bayerischen Rundfunks (BRSO) in München übernimmt, wird das der Soloflötist Philippe Boucly nicht mehr erleben. Denn nach der laufenden Saison geht der gebürtige Elsässer in den Ruhestand. Wir trafen den Flötisten in der neuen Isarphilharmonie und sprachen auch über seinen Lehrer Jean-Pierre Rampal, der am 7. Januar 100 Jahre geworden wäre. 

In seiner Aufzählung, unter welchen Dirigenten er in seiner Karriere bereits gespielt hat, fehlt Sir Simon Rattle. Philippe Boucly erwähnt Leonard Bernstein, Sergiu Celibidache, Georg Solti, Carlo Maria Giulini, Carlos Kleiber, Lorin Maazel, Claudio Abbado, Bernard Haitink, Zubin Mehta und Pierre Boulez. “Ich habe eigentlich alle erlebt”, schließt er, “außer Karajan!” Er lacht. Kurz vor der Rente kommt dann doch noch Simon Rattle dazu. Denn der “Liverpudlian” und Bald-Münchner dirigierte im Dezember ein Benefizkonzert des Symphonie­orchesters des Bayerischen Rundfunks. Boucly ist begeistert vom künftigen Chefdirigenten und wie der Gustav Mahlers “Neunte” leitet.

Sich auf den jeweiligen Dirigenten und dessen Art und Klangvorstellung einzustellen, sei schlichtweg sein Job als Orchestermusiker, findet Philippe Boucly. “Diese Flexibilität muss man einfach haben. Was auch immer der Dirigent möchte – darauf muss man sich einlassen.”

Herr Boucly, Jean-Pierre Rampal hat einst über Sie gesagt: “Seine blendende Technik und seinen reinen, warmen Ton setzt er stets in den Dienst seiner großen Musikalität, sodass er sich in herrlicher Weise als Solist entfalten kann.”

(überrascht): Oh, wo haben Sie das gefunden? (überlegt lange) Das muss Anfang der 1980er Jahre gewesen sein… Man brauchte damals eine Art Empfehlungsschreiben, mit dem man sich beim Vorspiel beworben hat.

Und da ist vermutlich ein Schreiben von Jean-Pierre Rampal nicht so schlecht. Er gilt als einer der wichtigsten und bedeutendsten Flötisten des 20. Jahrhunderts. Sie hatten die Ehre, bei ihm zu studieren. 

Es war tatsächlich eine Ehre, als junger Musiker bei ihm studieren zu dürfen. Er war Professor am “Conservatoire National Supérieur de Musique et de Danse de Paris” und damals war das das einzige Institut seiner Art. Es war sehr schwierig, einen Studienplatz zu bekommen. Jedes Jahr gab es eine erste Runde, in der sich 30 Studierende vorgestellt haben, in der zweiten spielten nur noch die Besten und schließlich wurden nur ein paar wenige weitergelassen. Das war total hart. Wir haben immer zu den Älteren emporgeschaut, die schon vier, fünf Jahre dabei waren. Aber wenn man dann einen Fuß in der Tür hatte, war das Schlimmste geschafft. (lacht)

Mit Rampal begann eine neue Ära. Es gab zwar davor auch schon bekannte Flötisten, wie etwa Marcel Moyse, aber das waren Flötisten im Berufsorchester. Es gab noch keine Bläser-Solisten. Und dann kamen Maurice André und eben Jean-Pierre Rampal. Jetzt wurden große Säle gefüllt, was vorher allenfalls Geiger oder Pianisten geschafft hatten.

War Rampals Popularität der Grund dafür, dass Sie bei ihm studieren wollten?

Nun, er war eben Professor am Konservatorium. Wenn diese Stelle ein anderer Flötist ­gehabt ­hätte… Ich habe Rampal während einer Sommerakademie in Nizza kennengelernt. Das war 1974, ich war 17 Jahre alt und in meiner Heimatstadt im Elsass schon einer der besten Schüler meines Lehrers. Ich habe mich aber nicht getraut, als ordentliches Mitglied des Sommer­kurses mitzumachen. Ich habe am öffentlichen Unterricht teilgenommen. Wir hatten alle Schallplatten von Rampal zu Hause! Der Gott der Flöte war in einem Raum mit uns! Mein Unterkiefer war immer unten. Es war sehr beeindruckend. Rampal war eine wahnsinnige Persönlichkeit mit sehr viel Aura, sehr viel Charisma.

Rampal
Die Pariser Flöten­klasse 1978/79 von Jean-Pierre Rampal (Philippe Boucly steht hinten links).

Er stammte aus Marseille und hatte deshalb einen “südlän­dischen Stil”. Er war sehr locker und nicht so “intel­lek­tuell” wie manch andere Flötisten. Und natürlich war er hochbegabt. Er war jemand, der nicht viel geübt hat. Er ging nicht so sehr ins ­Detail und stand auch nicht für Perfektion. Wenn man seinen Stil mit heute vergleicht, ist das Niveau heute unglaublich hoch. Man spielt viel perfekter als damals. Aber er hatte eine ungeheure Ausstrahlung und einen unglaublich schönen Ton, sehr sehr schön. Insgesamt ist die Musik­philo­sophie heute anders. Heute würde man, wenn jemand wie Rampal spielt, vielleicht sagen: “Mein Lieber, da nimmst du vielleicht mal das Metronom her.” (lacht)

War Rampal damals so eine Art Popstar?

Absolut! Es gab keine wirkliche Konkurrenz. James Galway etwa wurde erst Mitte der 1970er Jahre populär und das war auch eine ganz andere Richtung. Rampal war maßgeblich an der Wiederentdeckung barocker und früh­klassischer Literatur für sein Instrument beteiligt. Er hat die große weite Welt kennengelernt in dieser Zeit und mit vielen Solisten seiner Generation zusammengespielt. Aber das wichtigste war seine Persönlichkeit! Wir Nach­wuchs­flötis­ten haben uns neben ihm wie eine kleine Amöbe gefühlt.

Wie war er als Lehrer? War er streng?

Streng nicht unbedingt, manchmal war er sogar für ein paar Monate weg… In dieser Zeit hat Alain Marion – ein nicht weniger beeindruckender Flötist – die Schüler übernommen. Der Professor hat sich meist die “Sahnestücke” herausgepickt. Und wenn’s um Arbeit ging, sagte er: “Das schaust du diese Woche mit Alain an!” Der Unterricht fand immer gemeinsam in der Klasse statt, nie individuell. Wenn wir hier gut spielten oder eine gute Interpretation darboten, war er stets interessiert, hat kommentiert und auch wirklich schöne Sachen gesagt. Man war aber immer nervös, es war wie ein Wettbewerb. Die zehn anderen Flötisten im Raum sollten alle fast dasselbe spielen. Da gab es schon Konkurrenz. Allerdings hat man dabei auch gelernt, ruhig zu werden und gut zu spielen. Wenn Rampal gemerkt hat, dass jemand nicht gut vorbereitet war oder nicht schön gespielt hat, dann hat er den­jenigen nicht mehr wirklich beachtet. Dann ­plauderte er mit dem Nebenmann über andere Sachen. Das kann schon hart sein. 

Also der einfühlsame Pädagoge war er eher nicht?

Nicht immer. Er hatte auch nicht das Interesse, in die täglichen Details zu gehen. Er sagte oft: “Was ist das Problem? Spiel das doch einfach! Nicht so viel denken! Frag den Assistenten!” Das war bisweilen schon sehr impressionistisch. Das stammt übrigens von ihm selbst, dass sein Unterricht impressionistisch sei.

Was haben Sie denn bei ihm gelernt?

Seine Lockerheit und diese solistische Haltung zu beobachten, war schon faszinierend. Er war ein sehr guter Vom-Blatt-Spieler – und hat das auch oft getan. Gelernt hat man daher auch diese Spontaneität, diese Leichtigkeit. Aber natürlich auch den schönen Klang. Und nicht zuletzt den Pragmatismus, den man im Orchester braucht. Er fand: “Ach Orchesterstellen, spiel sie doch einfach.” Er war ja selbst im Orchester, in der Oper in Paris, zehn Jahre lang, Ende der 50er. Er hatte schon Ahnung von Orchester­musik, aber das war nicht seine Welt. 

Aber es war klar, dass Sie ins Orchester ­gehen?

Ja, mein Traum war, in einem guten Orchester zu spielen. Wir bekommen immer die Möglichkeit, nebenher etwas zu machen, was ich auch genutzt habe. Aber ich habe viel mehr von der Musik, wenn ich im Orchester spiele. Natürlich hat dieser Adrenalinschub auf der Bühne schon etwas für sich. Aber es gibt auch Phasen, in denen man allein im Hotel wohnt und allein im Restaurant sitzt. Ich mag eher das gemeinsame. Vielleicht bin ich auch mental nicht stark genug. Da muss man schon können. 

Wenn Sie nun in Rente gehen, sind Sie zufrieden?

Auf jeden Fall. Ich fühle mich sogar als Privile­gier­ter, weil ich in einem der besten Orchester der Welt spiele. Und solche Proben wie heute oder diese Woche mit Mahlers Neunter mit Simon Rattle – es gibt so viele Musiker, die gern an meiner Stelle in diesem Orchester spielen würden… Ich werde ab Sommer die eine Hälfte des Jahres in meinem Haus in Südfrankreich genießen und die andere Hälfte hier in München. Ich lasse mich überraschen. Vielleicht werde ich hier und da mal etwas spielen oder einen Kurs machen. Aber da kann ich ja auch mal nein sagen.

Aber dass Sie die Flöte an den Nagel hängen, kommt nicht infrage?

Auf keinen Fall. Wenn man sein ganzes Leben ein Instrument spielt, braucht das der Körper irgend­wann. Und wenn es nur eine halbe Stunde ist. Da sitzt man gern auf seinem Stuhl und spielt.