Orchestra | Von Jochen Mettlen

Der Komponist Kevin Houben im Interview

Kevin Houben
Foto: Jimmy Kets

Kevin Houben ist ein weltweit gefragter Dirigent, Dozent und Komponist, der sich vor allem in der Blasmusikwelt einen Namen gemacht hat. Aber nicht nur dort: Seit 2015 ist er Orchestrator des belgischen Festivals Tomorrowland. Wir sprachen mit dem 46-jährigen Belgier.

Kevin Houben hat unter anderem Trom­pete, Orchesterleitung und Komposition am Lemmens-Institut in Leuven studiert. Heute ist er Komponist, Dirigent und Dozent. Er unterrichtet am Lemmens-Institut (Luca), am Musikkonservatorium Antwerpen und an der Musikakademie in Genk. Er ist Dirigent der Harmonie Peer und weltweit als Gastdirigent tätig. Sehr erfolgreich ist Houben auch als Komponist. Bisher hat er rund 90 Werke geschrieben, davon 60 Blasmusikstücke.

Kevin Houben, Sie selbst sind Trompeter und kommen aus der Blasmusikwelt. Was bedeutet Ihnen das? 

Ich bin sehr stolz darauf, aus der Blasmusikwelt zu kommen. Ich schreibe auch sinfonische Werke und habe Projekte als Dirigent und Komponist. Mit viel Freude dirigiere ich die Harmonie von Peer, meinen Heimatverein. Als Zwölfjähriger habe ich dort meine ersten musikalischen Schritte gemacht und war später zudem erster Trompeter der Fanfare Achel. Das Musikvirus hat mich mit zwölf Jahren gepackt und begeistert. Daraus ist mein Beruf geworden, aber das ist eigentlich nicht wichtig. Egal auf welchem Niveau können Menschen Musik genießen und gemeinsam in einem Orchester spielen, ob Harmonie, Fanfare, Brassband, Sinfonieorchester oder Kammermusik. Das ist ein so schönes Hobby. Deshalb setze ich mich so sehr ein und möchte den Leuten etwas beibringen und meinen Enthusiasmus teilen. 

Welches Stück war Ihr Durchbruch? 

Meine Karriere als Komponist startete eigentlich mit »Arcana«. Mit diesem Werk habe ich zwei Wettbewerbe gewonnen. Zwei Jahre später habe ich für die Fanfare Achel »The Lost Labyrinth« geschrieben, das sie beim WMC in Kerkrade vorgetragen hat. Ein Höchststufenstück mit Gesang, das war damals etwas ganz Neues und ist wie eine Bombe eingeschlagen. Diese Premiere hat meiner Karriere einen unglaublichen Schub gegeben. »Lake of the Moon« ist mein meistgespieltes Stück, auch weil es mit dem Schwierigkeitsgrad 4 zugänglich und spielbar bleibt. Auf YouTube wurde das Video über 20 000 Mal angeschaut, das ist für meine Verhältnisse ziemlich viel. Mit meinem Werk »­Where Angels Fly« bin ich mit der Harmonie Peer Vize-Europameister geworden. Es ist ein derart komplexes Werk, für das ein Top-Höchststufenorchester drei Monate benötigt, um es musikalisch zu verstehen und umzusetzen. Das ist eines meiner extrem schwierigen Stücke. 

Kevin Houben
Foto: Jimmy Kets
Sie schreiben auch viele Auftragskompositionen. Wie gehen Sie das an?

Ich überlege genau, was ich annehme und was nicht. Ich möchte ja auch für meine Familie da sein. Seit fünf Jahren habe ich ein System, wie ich meine Zeit am besten einteile um glücklich zu sein – und das ohne zu viel Stress. Dennoch möchte ich gleichzeitig meine Ambitionen umsetzen. Deshalb komponiere ich von 9 bis 13/14 Uhr. Diese Zeit ist mir heilig. In den Sommermonaten habe ich an einem Werk für eine Harmonie im französischen Nantes geschrieben. Es hat einen Schwierigkeitsgrad von 5 bis 6 und musste Anfang September fertig sein. Ich habe 30 Tage für diese Komposition eingeplant, um die Deadline halten zu können. Dieses Einteilen meiner Zeit ist für mich sehr wichtig. 

Wie gehen Sie thematisch vor? 

Das ist unterschiedlich. Einige Orchester geben mir freie Hand, andere schlagen ein Thema vor. Die Themen müssen mich inspirieren. Ich habe meistens ein sehr gutes Gespräch mit dem Auftraggeber. Er liefert mir Angaben zum Verein, zur Historie der Ortschaft und wir besprechen, was aus Sicht des Vereins in die Komposition hinein soll. In Nantes ist Jules Verne geboren, das war natürlich ein sehr interessanter Ausgangspunkt für die Auftragskomposition.

Überall gibt es Legenden, Sagen oder Geschichten. Für eine Fanfare habe ich zum Beispiel eine lokale Legende musikalisch verarbeitet. Da ich viel lese, habe ich im Laufe der Zeit eine Liste mit möglichen Titeln zusammengestellt. Ein belgischer Sänger sagte einmal: »Einen guten Songtitel erfindest du nicht, den entdeckst du«. Und wenn ich freie Hand für eine Komposition habe, dann schaue ich auf meine Liste. Ich muss die Freiheit haben zu entscheiden, worüber ich schreibe. Ich lasse mir nicht mehr alle Themen aufschwatzen (lacht). Es kann aber auch sein, dass es mir hilft, wenn die Vereine mit ihren Ideen kommen. Die sind meistens sehr gut. Das geht in beide Richtungen. 

Welche Rolle spielt der Schwierigkeitsgrad?

Ich bin der Meinung, dass leichte Musik nicht einfach sein muss. Harmonisch kann man da ganz tolle Dinge machen, und es bleibt dennoch spielbar für Kinder. Jan Van der Roost hat auch einfache Werke geschrieben, dennoch merkt man die Hand des großen Meisters. Schostakowitsch hat für seinen Sohn ein Klavierkonzert komponiert. Er war kein Toptalent und das Stück ist wirklich spielbar, aber man sieht, dass eine phänomenale Idee dahinter steckt. Das liebe ich. Ich schreibe auch Schwierigkeitsgrad 2, aber mein Name wird im Moment mehr an schwierige Werke gelinkt. Und das mache ich natürlich auch gerne. Ich finde die Schwierigkeitsgrade 2, 3 nicht minderwertig, absolut nicht. Mein neuestes Stück ist Grad 3. Es ist genauso schwierig, ein gutes Stück für Grad 3 wie für Grad 6 zu schreiben.

Wie viele Werke haben Sie geschrieben?

Etwa 90 Werke, davon 60 Blasmusikstücke. Hinzu kommen sinfonische Musik, Kammermusik, Chorwerke, Gitarrenstücke oder Kompositionen für ganz verrückte Besetzungen. Im Rahmen meines Studiums habe ich auch viele Orchestrierungen für Blechbläserensembles geschrieben, beispielsweise das Requiem von Verdi. Einfach als Übung, um zu sehen, ob ich das kann. Es ist ja auch eine sehr schöne Musik. 

Sie dirigieren regelmäßig Jugend- und Verbandsorchester, jüngst das Play-In-Orchester des ostbelgischen Musikverbandes Födekam. Wie gehen Sie die Leitung derartiger Ensembles an?

Ich finde es interessant, auf allen musikalischen Niveaus zu arbeiten. Mir geht es vor allem um das Erlebnis und die Energie, die dabei vermittelt wird. Ich hoffe auch, die jungen Menschen inspirieren zu können und dass die Faszination Musik sie dazu animiert, ihr Instrument noch besser zu beherrschen. Das Niveau macht für mich keinen Unterschied. Jeder soll sein Bestes geben. Ziel ist es, sehr gut in einer angenehmen Atmosphäre zu arbeiten und gemeinsam etwas zu erreichen. Dabei kommt es auf die technische Spielbarkeit, das Klangerlebnis und die Musikalität an. Als Dirigent beschäftige ich mich viel mit Gruppendynamik. Jeder soll vor jedem Respekt haben. Ob dritte Trompete oder Soloflöte, macht dabei keinen Unterschied. Es geht um die Gruppenkultur. Dass jeder sein Bestes gibt und dass sie stolz auf einander sind. Das finde ich für ein Orchester äußerst wichtig.

Ich bin auch der Meinung, dass Proben zu 80 Prozent aus Stücken bestehen sollen, die jeder nach einigen Proben spielen kann. Dann kann man sich in puncto Klang, Intonation, Zusammenspiel weiterentwickeln und an den Details arbeiten. Das habe ich lieber, als sehr schwere Stücke zu nehmen, die die Musiker nach zwei Tagen halbwegs spielen können. Dann »überlebt« man zwar auf der Bühne, aber damit hat man langfristig nichts erreicht. 

Musiker aus anderen Ländern schauen mitunter neidisch auf die belgische Musikausbildung. Wie sehen Sie das?

Belgien ist ein kleines Land, aber wir haben 4, 5 hervorragende Musikkonservatorien mit herausragenden Dozenten und sehr gut ausgebildeten Studenten, die zu den Musikschulen gehen. Darüber hinaus ist die Musikausbildung in Belgien bezahlbar. Die einzelnen Vereine müssen ihren Nachwuchs nicht mehr selbst ausbilden. In den flämischen Musikschulen beispielsweise zahlt man für einen unter 16-Jährigen etwa 150 Euro pro Schuljahr, Privatunterricht kostet schnell 50 Euro pro Stunde. Unsere Musikschulen sind sehr gut. Ich hoffe, dass dieses Angebot bestehen bleibt.

Darüber hinaus spielt auch das Umfeld eine Rolle. Ich komme aus der Region von Peer und Achel (Provinz Limburg, A.d.R.), dort ist auch die Noordlimburgse Brassband angesiedelt. Da hat man als Jungmusiker ein gewisses Bild, wie ein Orchester aussehen kann. Wenn man in einem Dorf aufwächst, in dem der Musikverein Grad 2 oder 3 spielt, oder wenn man ein kleiner Junge wie ich ist, der mit 12 Jahren in Peer mit 10, 15 Berufsmusikern und vielen Musikstudenten musiziert, dann ist dieses hohe Niveau eine Inspirationsquelle. Ich saß neben einem Trompeter, der hatte gerade sein Studium am Konservatorium in Brüssel abgeschlossen. Ich schaute zu ihm hoch und habe zuhause geübt und geübt. Ich wollte das auch spielen können. Bei mir ging das natürlich nicht so schnell (lacht)

Und Ihre Zukunft?

Ich bin häufig als Gastdirigent tätig, oft im Ausland. Die letzten Monate war ich sehr viel unterwegs, von Belgien und den Niederlanden über Frankreich und Italien bis Dubai. Das war ziemlich sportlich. Ich treffe gerne Menschen. Das musikalische Niveau der Orchester ist nicht entscheidend für mich, sondern die Tatsache, dass sie alles geben. Überall lernt man etwas, wie die Vereine arbeiten, wie die Proben ablaufen, die Kultur … Das finde ich äußerst inspirierend. Dar­über hinaus stehen einige sehr interessante Kompositionsaufträge und Gastdirigate an.

Mein Traum ist es, spätestens in fünf Jahren auch in der sinfonischen Welt Fuß zu fassen. Ich habe bisher eine Sinfonie und ein Stück für Altsaxofon mit Sinfonieorchester geschrieben. Ich möchte daran arbeiten, damit ich auch in diesem Bereich Aufträge oder Projekte erhalte. Auch wenn ich mit dem Erreichten zufrieden bin, versuche ich immer nach vorne zu schauen. Es ist auch nicht schlimm, wenn mal etwas schief läuft. Das sage ich auch immer meinen Studenten: Wenn du es nicht versuchst, weißt du nie, ob du es nicht geschafft hättest. Man muss sich trauen. 

Früher habe ich unglaublich viele Projekte angenommen. 2015 wurde ich gefragt, ob ich für »Tomorrowland« die Orchestrierungen schreiben würde. Der etatmäßige Orchestrator hatte einen Monat daran gearbeitet und letzten Endes das Handtuch geworfen. In aller Panik wurde ich gefragt und ich hatte anderthalb Monate Zeit für eine Stunde Musik. Ich hatte drei Halsentzündungen durch den Stress (lacht). Rational gesehen hätte ich ablehnen müssen. Aber ich bin der Meinung, dass man sich trauen muss. Dann muss man auch für ein gutes Umfeld sorgen, wenn man Unterstützung braucht. Wenn das klappt, wächst das Vertrauen und man entwickelt sich weiter. 

Wie muss man sich Ihre Arbeit bei Tomorrowland vorstellen? 

Zwei DJs erstellen eine digitale Vorlage von bekannten Techno-Tracks, die ich für ein großes sinfonisches Orchester »übersetze« beziehungsweise orchestriere. Der Auftritt dauert etwa eine Stunde. In den ersten Jahren spielte das Belgische Nationalorchester, jetzt haben wir zum ersten Mal mit einem Ad-Hoc-Orchester gearbeitet.

Kevin Houben
Foto: Jimmy Kets

www.kevinhouben.be