Wood | Von Klaus Härtel

Die Flötistin Nolwenn Bargin im Interview

Nolwenn Bargin
Nolwenn Bargin (Foto: Marco Borggreve)

Nolwenn Bargin scherzt, sie habe das einzige Zimmer mit Meerblick. In Feldkirch? Genau! An der Wand nämlich hängt ein riesiges Foto des sturmumtosten Leuchtturms von Armen. Dieser steht mitten im Atlantik, vor der bretonischen Küste. Aus der Bretagne stammt auch die Flötistin Nolwenn Bargin. Sie serviert einen Espresso und bereitet sich selbst einen Grünen Tee. Dieser wird während des gesamten Interviews nicht angerührt. Ein Gespräch über Wein, die fränzösische Flötenschule und warum die Großeltern die Musikkarriere unverantwortlich fanden.

Frau Bargin, Wein oder Bier?

(wie aus der Pistole geschossen) Wein! Ich liebe Wein, ich liebe die Degustation. Ich entdecke gerne neue Weine und wenn ich auf Reisen bin, möchte ich immer schauen, welche Rebsorte wo angebaut wird und wie die Weinbauern arbeiten.

Passt Wein besser zur klassischen Musik?

Ich finde schon. Übrigens plane ich gerade ein “Konzert mit Wein”. Dabei konzipiere ich das Konzert parallel zur Degustation. Zu Beginn würde ein Schaumwein serviert, es folgen Weißwein, Rotwein, Desertwein. Und die Musik passt dazu. Da kann man dann inhaltlich die unterschiedlichsten Konzerte planen. Einmal gibt es französischen Wein zu französischer Musik, und ein anderes Mal bricht man zu einer musikalischen Reise durch die Weinregionen Europas auf. 

Welcher Wein würde zu Philippe Gaubert passen, der Thema Ihrer aktuellen CD ist?
Nolwenn Bargin

Da Gaubert aus der Weinbauregion Cahors stammt, müsste man natürlich einen Wein von dort nehmen – weil er den auch selbst getrunken hat. Zu so manchem Stück würde aber auch ein Sauvignon gut schmecken. 

Schweiz oder Frankreich?

Da kann ich mich nicht entscheiden. Ich bin in Frankreich geboren. Ich lebe jetzt in der Schweiz und bin auch mittlerweile Schweizerin.

In Frankreich, genauer gesagt in der Breta­gne, sind sie aufgewachsen und dort auch zur Flöte gekommen. 

Mein Vater hat früher als Junge Geige gespielt und er wollte für seine alte Geige neue Saiten kaufen. Ich bin mit ins Musikgeschäft gegangen, in dem mein Vater mir dann eine Blockflöte gekauft hat. Da muss ich sieben gewesen sein. Ein Jahr später wollte ich dann gerne eine »richtige« Flöte haben. Meine Mutter hat uns am Montagabend immer zum Kinderkonzert gebracht und ich hatte zu Hause drei Kassetten unter anderem »Peter und der Wolf« und die »Zauberflöte für Kinder erklärt«. Bereits mit elf habe ich richtig studiert. Das ging alles sehr schnell bei mir, weil ich auch früh die Chance hatte, im Orchester zu spielen.

Gab es irgendwann überhaupt einmal die Überlegung, etwas anderes zu machen als Musik?

Mit 16 habe ich ein wenig gezweifelt, weil es zu der Zeit im Konversatorium in Paris einen schwierigen Moment gab. Ich stand vor der Entscheidung, ob ich Musik-Abitur machen sollte oder nicht. Ich habe damals leider nicht unbedingt die Unterstützung der Lehrerin bekommen. Wenn man aus einer Musikerfamilie stammt, ermutigen die Leute einen sehr schnell, auch in diese Richtung zu gehen. Da ich aber nicht aus einer Musikerfamilie komme, war dann die Frage oft, ob man nicht lieber ein »richtiges« Abitur machen wolle. Das klingt für mich nicht nach Unterstützung…

Ich hatte damals parallel eine Ausbildung zur Segellehrerin gemacht. Aber meine Freunde und Bekannten in der Bretagne haben dann schon sehr deutlich gemeint: “Du bist Musik. Du musst das tun.” Da bin ich tatsächlich dem Rat meiner Eltern gefolgt, die gesagt haben: “Mach das, das ist für dich!” Im Gegensatz dazu fanden es meine Großeltern total unverantwortlich von meinen Eltern. Aber die haben gesagt: “Falls es nicht klappt – du bist intelligent genug, um noch etwas anderes zu machen!” Aber es nicht zu probieren würde ich bereuen. 

Nolwenn Bargin
Nolwenn Bargin (Foto: Marco Borggeve)
Warum gibt es eigentlich so viele gute Flötistinnen und Flötisten aus Frankreich?

Ich denke, es ist die Schule. Vermutlich ist es die beste Schule der Welt. Aber ich betrachte die Ausbildung in Frankreich sehr kritisch und ich finde die Auswahl bisweilen zu streng, denn dadurch verliert man viele Amateure. Das ist in der Schweiz und in Deutschland anders. Die Ausbildung in Frankreich hat dagegen aber den Vorteil, dass Flötisten bereits mit 16 die Technik beherrschen, die sie woanders noch nicht mit 19 haben. Und diese Übungen und die Technik sind das, was anders gelehrt wird in Frankreich. Bei der Musikalität sehe ich keinen Unterschied zu anderen Ländern… 

Das ist ein gutes Stichwort: Musikalität oder Persönlichkeit?

Persönlichkeit. Wenn Dirigenten bei einer Probe ein Orchester scherzhaft auffordern: “Jetzt mit Musik!”, meinen sie ja eigentlich “mit Gefühl!” Gefühl und Persönlichkeit sind für mich wesentlich konkreter. Wenn ich von einer Studentin verlange, dass ich ihre Musikalität sehen möchte, ist das nicht sehr konkret. Wenn ich sie aber auffordere, Persönlichkeit zu zeigen, dann impliziert das die Frage: Was möchtest du mit dieser Musik sagen? Was fühlst du? Bist du wütend, traurig, glücklich? 

Kann man Persönlichkeit lernen? 

Natürlich fällt es manchen leichter, vor Publikum zu sprechen und zu spielen, ihre Persönlichkeit herauszustellen. Aber es gibt auch zurückhaltende Menschen, denen das nicht so in die Wiege gelegt ist. Man kann das lernen. Bei meinen Studenten ist das ähnlich erkennbar. Manche kommen mit perfekter Technik und wir müssen vor allem an der “Persönlichkeit” arbeiten und bei anderen ist es umgekehrt. Man spürt die Persönlichkeit und muss noch an der Technik feilen.

Laut oder leise?

Hörbar leise. Ich erschrecke mich immer vor der Lautstärke. In den vergangenen zehn Jahren hat geradezu ein Wettbewerb stattgefunden, immer lauter zu werden, fast schon in Richtung Trompete. Aber die Flöte bleibt eine Flöte! Sie kann sehr präsent sein. Komponisten benutzen nun einmal keine Flöte, um etwas laut hinauszuposaunen. Die Flöte ist etwas für die Atmosphäre.

Spielen oder spielen lassen?

Spielen lassen. Ich wurde bei der aktuellen Aufnahme von den Kollegen gefragt: Wie denkst du? Was denkst du? Aber das wollte ich so nicht erklären. Deswegen habe ich sie in der ersten Probe einfach spielen lassen. Ich wollte sehen, was entsteht. Ich war ja überzeugt, dass ich die richtigen Partner ausgesucht hatte. Und ich wollte nicht spielen und sagen, wie ich es gerne hätte. Das war für mich der schönste Moment – dass etwas gemeinsam entsteht.

Lehren oder lernen?

Beides. Denn ich lerne immer. Bis zum Alter von 25 Jahren sollte man Fingertechnik und solche Dinge drauf haben – aber danach fängt das Lernen ja erst richtig an! Lehren kann ich ja nur, wenn ich es verstanden habe. Kann ich es weiterleiten? Beim Unterrichten lernt man über sich selbst sehr viel. Manchmal macht man Dinge, ohne zu wissen warum. Viele Studenten haben wirklich gute Fragen, die einen dann reflektieren lassen.

Kürzlich waren Sie auch im Iran und in Kolumbien, um zu unterrichten. Was hat es damit auf sich?

Ich war vor Covid dort und vor allem, bevor die unruhige Zeit im Iran begann. Momentan versuchen wir, eine Masterclass digital abzuhalten, weil es mir wirklich wichtig ist, den Kontakt aufrecht zu erhalten, bis ich wieder in den Iran gehen kann. Momentan gibt es da einen Studenten, der gerne hier studieren möchte. Und wir prüfen gerade, ob und wie wir die Aufnahmeprüfung online abhalten können. Wenn uns Covid etwas gelehrt hat, dann doch die Erkenntnis, dass digital vieles möglich ist. Ich würde so etwas gerne für Interessenten aus dem Iran und aus Kolumbien anbieten. Dann müssten die Leute für ihre Reise nicht so viel Geld investieren – ohne die Garantie zu haben, dass es klappt. Denn das kann ich ja nicht, das wäre wiederum unfair den Studenten vor Ort gegenüber.

Kurse im Iran und Kolumbien zu geben hat aber ja auch einen sozialen Aspekt. Sind das dann Erlebnisse, die einen merken lassen, dass Musik etwas bewirken kann, ein Stück weit die Welt verändern kann?

Für mich ja. Bei der Masterclass im Iran waren Mädchen und Jungen gemeinsam in einem Raum und ich habe gemerkt, wie Musik verbindet. Es ging nur um Musik und die Leute haben sich verstanden. Spannend war es auch, weil es lauter 14-Jährige waren. Die Mädchen waren also verpflichtet, ein Kopftuch zu tragen. Leider war es durch das Tuch für mich völlig unmöglich, die richtige Haltung zu prüfen. Der Hals war ja bedeckt. Ich habe dann gefragt, ob die anderen erst den Raum verlassen sollen, damit ich die Haltung korrigieren kann. Aber auf einmal war das gar kein Problem und sie nahm das Tuch ab. Wenn es um Musik geht, verstehen sich plötzlich alle. Es war unglaublich.

Nolwenn Bargin
Beatles oder Rolling Stones?

Rolling Stones! Ich mag die Beatles, aber manchmal sind sie mir auch ein bisschen zu langweilig. Bei den Rolling Stones verändert sich viel mehr zwischen den Nummern. Die Beatles sind immer »schön«. Ich will aber nicht, dass immer alles schön ist. 

Ist das eine rebellische Ader in Ihnen? 

Schon, ja! (lacht) Man kann und darf nicht immer einverstanden sein mit allem. Ab und zu darf man auch widersprechen. Es ist immer besser, seinen Unmut auszusprechen, als stillzuhalten. Das sage ich so auch meinen Studentinnen und Studenten. Sie sollen widersprechen. Aber ohne Argumente geht das natürlich nicht. (lacht) 

Bauch oder Kopf?

Ich würde Bauch sagen. Bei dem Gaubert-Album war das so. Eigentlich hatte ich andere Pläne für die CD beim Label Claves. Ich hatte mir ein Programm überlegt, aber in irgendeiner Weise nichts gespürt. Ich weiß nicht, warum. Und dann habe ich dieses Buch über Philippe Gaubert gelesen und sofort gespürt: Ich muss! Der Bauch hat also entschieden und mit dem Kopf habe ich dann überlegt, was passen würde. 

Wenn sie mal keine Musik machen: Action oder Erholung? 

Mein Januar war wirklich voll, deshalb würde ich zunächst einmal Erholung sagen. Aber wenn ich fit bin, dann eher Action ohne Flöte. Segeln beispielsweise tut gut. Die frische Luft genießen, etwas unternehmen – aber trotzdem auf meinen Körper hören, wenn ich müde bin. Dann wieder Erholung. (lacht)

Hotel oder Zeltplatz?

Eigentlich keins von beiden. Beim Zelten habe ich Angst, dass mir kalt wird und Hotels sind mir oft zu unpersönlich. Das Beste ist Bed&Breakfast unter Leuten. 

Kochen oder essen?

Essen! Mein Mann kocht.  

Frühaufsteher oder Nachtarbeiter? 

Nachtarbeiter. Ich glaube, früh aufzustehen ist schon sinnvoll. Ich empfehle das allen meinen Studenten. Und ich selbst halte mich nicht daran. (lacht) 

Nach vorne schauen oder zurückblicken? 

Nach vorne schauen. Ganz sicher. Ich schaue nicht zurück. Ich mache nicht mal Fotos. Meine Reisen habe ich im Kopf gespeichert. Sie begleiten mich und ich habe alles in meinem »Rucksack« dabei. Aber meine Gedanken kreisen hauptsächlich darum, was es noch zu tun gibt. Ich bin so neugierig auf alles und ich bin erst in der Mitte meines Lebens – es gibt noch eine zweite Hälfte.

Nolwenn Bargin

Nolwenn Bargin 

französisch-schweizerische Flötistin mit bretonischen Wurzeln, interessiert sich bereits in sehr jungem Alter für die Flöte. Mit 11 tritt sie ihr Studium in Paris an, in der Klasse von Sophie Cherrier, und wird mit 19 in der Klasse von Jean-Claude Gérard an der Musikhochschule Stuttgart aufgenommen, wo sie 5 Jahre später ihr künstlerisches Diplom erlangt. Sie setzt ihr Studium in der Klasse von Davide Formisano fort und erhält 2010 ihr Solistendiplom mit höchsten Auszeichnungen.

Nolwenn Bargin ist derzeit Soloflötistin am Musikkollegium Winterthur und wird regelmäßig bei Orchestern wie dem Sinfonieorchester Basel und dem Luzerner Sinfonieorchester eingeladen. Sie ist seit 2017 als Professorin am Stella Vorarlberg Privathochschule für Musik (ehem. Vorarlberger Landeskonservatorium Feldkirch) in Österreich tätig und führt gleichzeitig eine Karriere als Solistin. 

Im Jahr 2021 verwirklicht sie ihr Kammermusikprojekt mit der Gründung des Ensembles Chant du Vent und mit einer ersten Aufnahme, welche Werke für Flöte und Klavier sowie Werken für Trio, mit Cello, Violine und Oboe des Komponisten Philippe Gaubert enthält.

Sie nimmt an zahlreichen Bildungsprojekten teil, so zum Beispiel im Iran, wo sie die Aktion des Vereins Brücke für die Kunst unterstützt, oder in Kolumbien, wo sie die jungen Talente der Iberacademy in Medellín durch Meisterkurse und side-­by-side Orchesterprojekte fördert.

www.nolwennbargin.com