Orchestra | Von Klaus Härtel

Dirigieren lernen mit systematischem Ansatz

Dirigent

Online Dirigieren lernen? Geht das? Manuel Epli hat versucht, aus der Corona-Krise das Beste zu machen und ein digitales 90-Tage-Programm entwickelt. Mit Erfolg. Jetzt packt er noch einmal eine Schippe drauf und startet das 180-Tage-Programm. Wir sprachen mit ihm über sein Konzept, den systematischen Ansatz in der Dirigentenausbildung, die Lernbarkeit von Ausdruck und Gestaltung sowie die Frage, wann ein Orchester bei der Dirigentenausbildung etwas bringt. 

Im Frühjahr haben Sie zum ersten Mal Ihr 90-Days-Programm veranstaltet. Wie sind Sie auf die Idee gekommen, online eine Fortbildung für Dirigenten anzubieten?

Die Situation im März hat uns alle zum Um­denken gezwungen. Aufgrund der Lockdown-Maßnahmen hatte meine Dirigierklasse von einem Tag auf den anderen keinen Unterricht mehr. Viele meiner Schüler haben mich dann gefragt, ob wir nicht online etwas machen könnten. Ich habe dann überlegt, was bis zu den Som­merferien ein realisierbares Unterrichtskonzept wäre. Das Interesse an dieser Online-Ausbildung war derartig groß, dass ich das Programm am Ende auch öffentlich zugänglich gemacht habe. Das war die Geburtsstunde des 90-Days-Programms mit mehr als 50 begeisterten Teilnehmern. 

Was motiviert Sie für die Lehre?

Wer meine Biografie kennt, weiß, dass ich am Anfang nicht Blasorchesterleitung studiert habe. Ich habe meinen Bachelor in Blasorchesterleitung erst nach meinem Lehramtsstudium gemacht. Davor war ich ein “ganz normaler” Dirigent, der sich über Seminare, Fortbildungen und Kurse weitergebildet hat. Was mich immer ge­ärgert hat, war das Verhalten von einigen “studierten” Kollegen. Die wussten immer alles besser, obwohl sie mit ihren Orchestern nicht wesentlich mehr erreicht haben. Ich hatte oft das Gefühl, ein Dirigent “2. Klasse” zu sein…

Meine Mission ist es, praxiserprobte Konzepte mit interessierten Kolleginnen und Kollegen zu teilen. Ich möchte, dass jeder, der wirklich etwas lernen möchte, Zugriff auf die besten Konzepte der Profis hat. Zu glauben, dass man das Dirigieren nur an einer Hochschule lernen kann, ist ein Denkfehler. Ich kenne viele sehr gute Amateurdirigenten, die engagiert arbeiten, die richtigen Dinge lernen und mit ihren Orchestern einen tollen Job machen. Und dann gibt es Kolleginnen und Kollegen mit einem Bachelor- oder Masterabschluss, die dann fünf Orchester dirigieren. Da frage ich mich immer, wie das gehen soll? Bei Wertungsspielen und Wettbewerben hört man auch immer wieder, dass das eben nicht geht…

Im Januar starten Sie jetzt Ihr 180-Days-Programm. Was ist der Unterschied zum 90-Days-Programm?

Nach dem Abschluss der 90 Days im Juli haben wir das Programm evaluiert. Das Feedback für das Programm war ausgesprochen positiv. Eine Rückmeldung, die von Teilnehmern kam, war die, dass sie extrem viel Input bekommen haben, die Zeit zum Verarbeiten aber manchmal einfach zu kurz war. Aus diesem Grund haben mein Team und ich uns dazu entschieden, das Programm auf sechs Monate zu erweitern. Neben mehr Zeit zum Bearbeiten der Aufgaben sind aber auch inhaltlich neue Module dazugekommen. Das ständige Weiterentwickeln, Optimieren und Ausbauen des Programms sind mir sehr wichtig. Oft ergeben sich aus der Inter­aktion mit den Schülern auch wieder neue Ansätze, an die ich so vorher vielleicht noch gar nicht gedacht habe.

Was ist der Unterschied zwischen den 180 Days und einem normalen Seminar?

Das Problem bei einem normalen Seminar an einem Wochenende ist doch: Man geht hin, bekommt Input und ist für das Wochenende Teil in einer starken Community. Bei der Umsetzung nach dem Seminar ist man aber wieder alleine. Das ist glaube ich ein großes Problem. Was man aber braucht, ist ein Unterstützungssystem, auf das man sich bei Fragen und Problemen verlassen kann und das einen wieder auf die richtige Spur bringt, wenn man mal vom Weg abgekommen ist. Und genau das liefert das 180-Days-Programm. Sowohl inhaltlich und fachlich wie auch vom Mindset her.

Jeder Dozent fürs Dirigieren hat ja seine eigene Art, über Musik und das Dirigieren zu denken. Was ist Ihr Ansatz?

Ob ein Dirigent gut ist, entscheidet sich an drei einfachen Fragen:

  1. Wie trennscharf hört er die Fehler, die das Orchester macht?
  2. Wie gut ist die Priorisierung der Stellen, die er erarbeitet?
  3. Wie effizient ist er im Verbessern der ausgewählten Stellen?

Das Interessante dabei ist, dass man in allen drei Bereichen gut sein muss, um erfolgreich mit dem Orchester arbeiten zu können. Ein Dirigent, der gut priorisiert und effizient verbessert, aber keine Fehler erkennt, wird keinen Erfolg haben. Was soll er denn priorisieren und verbessern, wenn er nichts erkennt? Der zweite Fall: Wer alle Fehler erkennt und diese auch effizient korrigieren kann, kommt nur sehr langsam vorwärts, solange er Unwichtiges nicht von Wichtigem unterscheiden kann. Gleiches gilt für die dritte Frage: Ein Kollege, der super in der Fehlererkennung ist und eine gute Rangfolge erstellt, wird scheitern, wenn er die Fehler nicht effizient korrigieren kann. Ich bin überzeugt, dass sich der Erfolg in der Ausbildung hinter der Trias »erkennen, priorisieren und effizient korrigieren« verbirgt.

Sie verfolgen also einen systematischen Ansatz in der Dirigentenausbildung?

Ja, genau. Zuerst muss man das Erkennen von Fehlern üben. Ich teile das immer gerne in die Bereiche aktive und passive Fehlererkennung auf. Bei der aktiven Fehlererkennung spielt die klassische Gehörbildung, Solfège und die Arbeit mit Höranalysen eine große Rolle. Die passive Fehlererkennung sind dann die Standardsituationen der Orchesterschulung. Danach geht es dann um die erfolgreiche Priorisierung von Fehlerstellen. Hier spielt das Lernen am Vorbild eine große Rolle. Wie priorisiert ein guter Dirigent? Wie priorisiert ein schlechter Dirigent? Wer das ein paarmal gesehen hat, bekommt ein gutes Gefühl, was man zu welchem Zeitpunkt proben muss. Der letzte Schritt ist das Thema Probenmethodik. Hier geht es darum, dass der Rucksack an Tools und Strategien für die Probe vollgepackt ist. Werkzeug A funktioniert nicht? Kein Problem, es gibt ja noch Werkzeug B, C, D, E…

Für einige Kolleginnen und Kollegen ist das Denken in Systemen in der Musik fremd. 

Viele große Dirigenten haben interessanter­weise irgendetwas Schriftliches hinterlassen, wie sie über Musik denken. Was ich immer wieder sehr gerne lese, ist die Schriftenreihe von Leonard Bernstein, die aus seinen sechs Vorlesungen an der Universität von Harvard ent­standen ist. Er erklärt darin mit der Chomsky-Hierarchie die Struktur von abendländischer ­Musik und begründet damit auch die emotionale Wirkung von Musik auf uns. Was macht Bernstein hier? Er wendet ein System aus der theoretischen Informatik auf die Musiker an. Musik und ein systematischer Ansatz müssen sich nicht ausschließen.

Was halten Sie von der Aussage “Musik ist Kunst. Das hat man oder hat man nicht. Das kann man nicht lernen”?

Das finde ich sehr schwierig. Ich habe relativ spät angefangen, Klavier zu spielen. Meine Klavierlehrerin war super, alte russische Schule sage ich da nur… Sie sagte immer: “Schau Manuel, Musik ist einfach, hier bauen wir drei Takte Spannung auf und dort phrasieren wir dann einen Takt ab. Wenn es gut ist, klingt es so!” Das war für mich eine völlig neue Art, über Musik, Gestaltung und Ausdruck zu denken. Interessant ist, dass die alte Dame das so auch dem sechsjährigen Schüler beigebracht hat, der die Stunde vor mir hatte. Der Junge hat nach zwei Jahren so musikalisch gespielt, wie es viele Bläser nach zehn Jahren nicht tun. Ausdruck und Gestaltung ist zu einem hohen Grad lernbar. 

Bei den 180 Days ist ja nicht die Arbeit mit einem Orchester vorgesehen. Das stelle ich mir schwierig vor…

Die Grundfrage ist doch die: Wann bringt ein Orchester bei der Dirigentenausbildung etwas? Es bringt dann etwas, wenn es um die Anwendung von Wissen und Fähigkeiten geht. Dann hilft das Orchester bei der Lösung des Problems. Oft ist es aber so, dass einfach zu wenig Wissen und Fähigkeiten vorhanden sind. Ich erlebe das als Dozent bei externen Seminaren leider immer wieder… Darum bin ich bei Seminaren mit einem Orchester immer sehr vorsichtig. Das ist immer der zweite Schritt und macht erst dann Sinn, wenn es darum geht, verinnerlichte Konzepte in die Praxis zu bringen und anzuwenden. Der erste Schritt ist immer der Aufbau von Wissen und Fähigkeiten.

Ein anderer Punkt ist: Ich halte es auch für schwierig, wenn die Lehre direkt vor dem Orchester erfolgt. Das Orchester vor einem, der Lehrer neben einem und hinter einem die anderen Teilnehmer. Dann kommt das “Kritikfeuerwerk”. “Tu das nicht, mache mehr das, hier lässt du das…” Das ist unangenehm, über­fordert viele und ist für mich keine zeitgemäße Art des Unterrichtens…

Es geht also darum, dass die Lehre auch einer gewissen Reihenfolge folgen muss…

Ja, genau. Und was dann genauso wichtig ist: Es darf nicht philosophiert werden. Als Teilnehmer habe ich oft auch erlebt, dass sich Dozenten bei Seminaren inhaltlich ausgetobt und die wildesten “Ausflüge” unternommen haben. Da war dann plötzlich vom Chamäleon der Blasmusik die Rede, von der Entwicklung der Blasmusik in Belgien oder von den Synthetisten der Blasmusik. Das sind sicherlich alles spannende Themen. Sind sie wichtig für unsere praktische Arbeit? Wohl eher nicht.

Zeit ist unser höchstes Gut. Im Leben, in der Probe und in der Ausbildung. Darum ist das 180-Days-Programm streng an den Inhalten ausgerichtet, die ein Dirigent im deutschsprachigen Raum braucht. Es geht bei jeder Entwicklung ­immer auch darum, dass man zum jeweiligen Zeitpunkt den richtigen Input bekommt.

Warum muss man sich auf das Programm bewerben?

Ich bin dankeswerterweise an einem Punkt angekommen, an dem ich mir aussuchen kann, mit wem ich arbeite und mit wem nicht. Ich habe in den letzten 20 Jahren in der Szene viele sehr nette Kolleginnen und Kollegen kennengelernt. Es gibt aber auch Menschen, die alles wissen, interessanterweise aber keinen Erfolg haben. Für sie ist das 180-Days-Programm nicht ge­eignet. Es ist für Dirigentinnen und Dirigenten, die praxiserprobte Konzepte und Methoden lernen wollen, die sie dann in der nächsten Probe direkt anwenden und ausprobieren können. Es ist für Kolleginnen und Kollegen, die bereit sind, Zeit, Geld und Energie in ihre eigene Ausbildung zu investieren.

Was sollte ein Teilnehmer mitbringen? Was sollte er schon können?

Diese Frage lässt sich so einfach nicht beantworten. Es gibt keine Zugangsbeschränkung in Form eines Abschlusses oder Zertifikats. Ich möchte mit einer Gruppe arbeiten, die lernen möchte. Und zwar jede Woche. Die diszipliniert an ihren Wochenaufgaben arbeitet, die bereit ist, sich den richtigen Fragen zu stellen, “alte Zöpfe” zu überdenken und eventuell auch abzuschneiden. Das Programm ist so gestaltet, dass wirklich jeder etwas lernt. Bei den 90 Days reichte die Altersspanne von 21 bis 65 Jahren. Von der ständigen Aushilfe im Tonhalle-Orchester Zürich über Absolventen von dreijährigen Lehrgängen an Konservatorien in Österreich, Master-Absolventen von Musikstudiengängen bis hin C3-Absolventen war wirklich alles dabei. Und alle haben sich in den 90 Tagen massiv entwickelt. Meine Botschaft ist hier wirklich sehr einfach: Willst du lernen? Dann bewirb dich. 

Dann natürlich noch die wichtigste Frage: Wann ist der Bewerbungsschluss?

Bewerbungen sind von Montag, 7. Dezember, bis zum Sonntag, 13. Dezember, möglich. Wer Interesse hat, am 180-Days-Programm teilzunehmen, kann sich auf meiner Website in zwei Minuten bewerben. Einfach das Formular ausfüllen, danach telefonieren wir dann und finden gemeinsam heraus, ob das 180-Days-Programm passt oder nicht.

www.manuelepli.de/180-days-programm

Epli

Manuel Epli

studierte Dirigieren am Vorarlberger Landeskonservatorium sowie an der Kunst-­ und Musikhochschule von Arn­heim, ­Enschede und Zwolle (Nieder­lande) und beendete dieses Studium mit dem ­Bachelor of Music. An der Musikuniversität Mozarteum Salzburg schloss er sein Dirigierstudium mit dem Master of Arts ab. Manuel Epli ist ein gefragter Autor, Juror, Referent und Coach.

An der Universität Ulm studierte Manuel Epli außerdem Mathematik, Informatik, Pädagogik sowie Psychologie und un­terrichtet ­heute als Studienrat an der Friedrich­-List-­Schule Ulm.