Wood | Von Hans-Jürgen Schaal

Das klassische Saxofon im 20. Jahrhundert

Saxofon
Am wichtigsten unter den klassischen Saxofonisten im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts war der Brite John Harle (Foto: John Millar)

Um 1900 schien die Lage ziemlich aussichtslos. Auch 60 Jahre nach seiner Erfindung war das Saxofon nicht ansatzweise im klassischen Musikleben etabliert. Den entscheidenden Push in die “Seriosität” lieferte ihm dann aber ausgerechnet der Jazz.

Nicht, dass es vor 1900 keine klassische Musik fürs Saxofon gegeben hätte! Aber die Übungs- und Prüfungsstücke für Adolphe Sax’ Saxofonklasse (1857 bis 1871), die Glanznummern reisender Solisten (meist Fantasien über Opernmelodien) oder die vereinzelten Timbre- und Bass-Einsätze in französischen Opern brachten keinen großen Effekt für die Anerkennung des “klassischen” Saxofons. Der Berliner Saxofonpionier Gustav Bumcke beklagte 1902 “das gänzlich fehlende Verständnis bei Presse und Publikum” für das Saxofon als “seriöses” Instrument. In Berlin fanden sich damals keine vier Saxofonisten für die Aufführung von Richard Strauss’ “Sinfonia domestica” – die Premiere wurde daher in die Carnegie Hall in New York verlegt. Strauss kennzeichnete die vier Saxofonstimmen konsequenterweise mit “Ad ­libitum” – künftige Aufführungen sollten nicht von diesem Instrument abhängig sein.

Amerika mit großem Interesse

In Amerika immerhin war das Interesse am Saxofon recht groß. 1888 hatte die Firma Conn begonnen, amerikanische Saxofone herzustellen – 1894 folgte Buescher. Das Instrument erfreute sich in den USA vor allem in Marschmusik, Zirkus und Varieté einiger Beliebtheit. Die Welt der klassischen Musik hingegen begannen die Amerikaner gerade erst zu entdecken. Zwischen 1880 und 1900 entstanden die ersten amerikanischen Sinfonieorchester (in New York, Boston, Philadelphia, Chicago, St. Louis), auch die “Met” und das Nationalkonservatorium.

Im Zuge dieser Entwicklung kam die Bostoner Musikmäzenin Elise Hall (1853 bis 1924) auf die Idee, man könnte das populäre Saxofon doch auch als Kammer- und Konzertinstrument einsetzen. Zwischen 1900 und 1920 entstanden in ihrem Auftrag mindestens 22 Saxofonwerke – durchweg geschrieben von französischen und belgischen Kom­ponisten von einigem Renommee. Das heute bekannteste dieser Stücke ist Claude Debussys “Rapsodie”, eine andalusisch-orientalisch inspirierte Orchesterfantasie mit dem Saxofon als besonderer Klangfarbe. Jean Roger-Ducasse hat Debussys Werk ausnotiert, sodass es 1919 uraufgeführt werden konnte. Der Premieren-Solist war François Combelle.

Jazz als Katalysator

Um das Saxofon als Laien-Instrument noch weiter zu verbreiten, entwickelte man in den USA ca. 1914 das “C-Melody”-Modell. Ein Frank Trumbauer, Coleman Hawkins oder Benny Carter fanden als Jugendliche durch diese Markt-Offensive zum Saxofon – und brachten später das Instrument in den jungen Jazz ein. Die Popularität des Jazz in den 1920er-Jahren war für das Saxofon ein Riesenglück, denn nun entdeckten es auch “seriöse” Komponisten wie Béla Bartók, Alban Berg, Ernst Krenek, Darius Milhaud, Giacomo Puccini oder Kurt Weill. Damals entstanden auch die Hot-Sonate (1930) von Ervín Schulhoff, das Trio op. 47 (1928) von Paul Hindemith oder das Quartett op. 22 (1930) von Anton Webern – wichtige Kammermusikwerke mit Saxofon. 

Der französische Saxofonist Marcel Mule (1901 bis 2001), ausgebildet in der Militärmusik, war ebenfalls vom Erfolg des Jazz angeregt – er hat das Vibrato der Jazzsaxofonisten quasi klassisch “kultiviert”. 1928 gründete Mule sein eigenes Saxofonquartett, das bis 1967 bestehen sollte und unzähligen Saxofonensembles zum Vorbild wurde. Für Mule entstand in den 1930er und 1940er-Jahren die Standardliteratur für Saxofonquartett – darunter die heute noch gerne gespielten Quartette von Eugène Bozza, Jean Françaix, Alexander Glasunow, Gabriel Pierné, Jean Rivier und Florent Schmitt. Mule war es auch, der 1928 bei der Premiere von Ravels “Boléro” den Saxofonpart übernahm. Am Pariser Konservatorium hat Mule ab 1942 zahlreiche klassische Saxofonisten ausgebildet, darunter Daniel Deffayet, Guy Lacour, Jean-Marie Londeix, Jacques Desloges, Frederick Hemke, Pierre Bourque und Iwan Roth. 

“Gegenspieler” Sigurd Rascher

Mules “Gegenspieler” war der in Wuppertal geborene Sigurd Raschèr (1907 bis 2001). Auch ihn hatte der Jazz zum Saxofon geführt, doch die Möglichkeiten des Instruments (vor allem im Altissimo-Bereich) erforschte er dann ganz auf eigene Faust. Als Kämpfer für die “Konzertfähigkeit” des Saxofons gab Raschèr zahlreiche Saxofonkonzerte in Auftrag. Seiner Initiative verdanken wir die heute legendären Konzerte von Glasunow (1934), Larsson (1934), Ibert (1935) und Martin (1938). Erst als Mule sein Ensemble aufgelöst hatte, gründete auch Raschèr ein eigenes Saxofonquartett. Das Raschèr-Quartett widmet sich bis heute vor allem zeitgenössischer neuer Musik. Zu den Komponisten, die für dieses Quartett geschrieben haben, gehören Luciano Berio, Philip Glass, Sofia Gubaidulina, Mauricio Kagel, Giya Kancheli, Erkki-Sven Tüür oder Iannis Xenakis. Andere – wie Penderecki und Reich – haben Bearbeitungen eigener Werke fürs RSQ angeregt und genehmigt. 

Neuanfang nach 1945

Nach dem Zweiten Weltkrieg dauerte es offenbar eine Weile, ehe das Interesse am klassischen Saxofon wieder richtig erwacht ist. Weder die Avantgarde der Serialisten noch die restaurative Klassikwelt schienen viel für das Instrument übrig zu haben. Immerhin sorgte Marcel Mule 1950 für einiges Aufsehen, als er den Trompetenpart in Bachs 2. Brandenburgischen Konzert auf dem Sopransax spielte. (Werke von Bach sind noch immer höchst beliebte Vorlagen für Saxofon-Transkriptionen.) Für Mule entstand auch Villa-Lobos’ “Fantasia” (1948), ein originelles, brasilianisch gefärbtes Konzert für Sopransaxofon, drei Hörner und Streicher – doch Mule hat es offenbar nie aufgeführt.

Pierre-Max Dubois wiederum schrieb sein erstes Saxofonkonzert (1959) für Mules Schüler Jean-Marie Londeix. Als der Amerikaner Eugène Rousseau, ein weiterer Mule-Schüler, 1971 für die Deutsche Grammophon vier der brillantesten Saxofonkonzerte des 20. Jahrhunderts einspielte (Glasunow, Ibert, Villa-Lobos, Dubois), war das wie ein Startschuss für die Neubelebung des klassischen Saxofons. Bis 1994 wuchs das Repertoire (laut Jean-Marie Londeix) auf mehr als 12 000 Werke an. 

Das 100-Millionen-Publikum

Saxofon
Harrison Birtwistle (Foto: MITO SettembreMusica – https://www.flickr.com/photos/
mitosettembremusica/
2839966224/sizes/l/, CC BY 2.0)

Am wichtigsten unter den klassischen Saxofonisten im letzten Viertel des 20. Jahrhunderts war der Brite John Harle (geb. 1956). Er hat nicht nur zahlreiche Neukompositionen uraufgeführt, sondern auch die “Klassiker” des Jahrhunderts gepflegt. Einer seiner Favoriten ist das spätromantisch klingende (einsätzige) Saxofonkonzert in Es von Glasunow (1934), weil es “kompositorisch so gut gearbeitet” ist und vom Publikum mit großer Anteilnahme gehört wird. Von den vielen Saxofonkonzerten, die für ihn selbst geschrieben wurden, schätzt Harle sehr “The Green Ray” (1991) von Gavin Bryars und “The Imagined Sound Of Sun On Stone” (1999) von Sally Beamish. Besondere Bedeutung hat für ihn jedoch das provokante Konzert “Panic” von Harrison Birtwistle, das er bei der “Last Night of the Proms” 1995 uraufführen durfte. “Das war eine Premiere zeitgenössischer Musik vor 100 Millionen TV-Zuschauern! Viele Leute waren schockiert. Manche Reaktionen erinnerten an die Premiere von Strawinskys ›Sacre‹. Die Presse ereiferte sich in Hass und Liebe.”

Weniger bekannt, aber von großer Bedeutung für das klassische Saxofon war der Solist John-Edward Kelly (1958 bis 2015), der mehr als 200 Saxofonwerke uraufgeführt hat. Der “Lieblingsschüler” von Sigurd Raschèr spielte ein Jahrzehnt lang (1981 bis 1990) im Raschèr-Quartett und begann in dieser Zeit schon, Komponisten für das Instrument zu begeistern. Zu den Werken, die für Kelly geschrieben wurden, gehören Iannis Xenakis’ Saxofonquartett “Xas” (1987) und Anders Eliassons Sinfonie Nr. 3 für Saxofon und Orchester (1989).

Wechselwirkungen zwischen klassischem Saxofon und Jazz

Auch nach den 1920er Jahren gab es viele Wechselwirkungen zwischen klassischem Saxofon und Jazz. Manche Komponisten ließen es sich zum Beispiel nicht nehmen, “seriöse” Konzerte für berühmte Jazzsaxofonisten zu schreiben, etwa für Jan Garbarek, Stan Getz oder David Sanborn. Umgekehrt hat mancher Jazzsaxofonist auch Saxofonwerke für den Konzertsaal komponiert. Phil Woods’ Saxofonquartett “Three Improvisations” (1962) gehört vor allem in den USA zu den Saxofon-Klassikern des 20. Jahrhunderts. Die in Kalifornien geborene “Minimal Music” hat ebenfalls eine Schwäche fürs Saxofon – ausgelöst durch den saxofondominierten Modal-Jazz der 1960er-Jahre. Der Minimal-Music-Komponist Philip Glass sagt: “Das Saxofon wanderte aus der Welt des Avantgarde-Jazz in die experimentelle Avantgarde-Musik. Das passierte durch unsere Begeisterung für John Coltranes Spielweise.”