Orchestra | Von Hans-Jürgen Schaal

Rhapsody In Blue von George Gershwin wird 100

Rhapsody in Blue

Vor 100 Jahren hatte George Gershwins berühmtestes Werk, die Rhapsody in Blue – seine erste “seriöse” Komposition – Premiere in New York. Die Interpreten waren die Musiker des Paul-Whiteman-Orchesters, der ersten Bigband des Jazz. 

Der 12. Februar ist ein Feiertag in New York – Abraham Lincolns Geburtstag –, und das Konzert in der Aeolian Hall war auf 15 Uhr angesetzt. Paul Whiteman, der Orchesterleiter, litt beim Mittagessen schon so sehr unter Nervosität, dass ihm übel wurde und er keinen Bissen zu sich nehmen konnte. In seiner Aufregung stellte er sich vor den Eingang der Konzerthalle in der 42. Straße. „Obwohl es heftig schneite, drängten sich die Menschen wie in der U-Bahn“, erinnerte er sich später. „Sie rauften sich um den Zutritt und kämpften um die letzten Tickets wie sonst nur bei einem Baseballspiel oder einem Boxkampf.“ Die großen Menschenmengen machten Whiteman Angst. Vielleicht hatte er dem Publikum im Vorfeld zu viel versprochen? Auf den Ehrenplätzen saßen immerhin die Glanzlichter der musikalischen Prominenz New Yorks: Strawinsky, Rachmaninow, Heifetz, Stokowski, Kreisler, Mengelberg, auch etliche Schauspieler, Banker und Literaten. Wenn das nur gut ging!

“Experiment in Modern Music” mit der Rhapsody in Blue als Höhepunkt

Whitemans Nervosität legte sich auch nach Konzertbeginn nicht. Sein groß angekündigtes „Experiment in Modern Music“ zog sich etwas langatmig durch 24 (!) Stücke zwischen angejazzter Klassik und konzertant aufbereiteter Unterhaltungsmusik, ehe der Höhepunkt kam: die Uraufführung von George Gershwins „Rhapsody In Blue“ mit dem Komponisten persönlich am Klavier. Schon gleich mit dem Klarinetten-Glissando am Anfang der „Rhapsody“, diesem „tremolierenden, betrunkenen Aufstöhnen“ (G.W. Gabriel), lag plötzlich prickelnde Spannung im Saal. Vor Aufregung und Glück kamen Whiteman beim Dirigieren sogar die Tränen. Der Applaus am Ende war überwältigend. Die Premierenkritiker schrieben anderntags, Gershwins Werk sei „noch besser als Strawinskys ‚Sacre‘“, es sei auch „Schönberg und Milhaud überlegen“. Viele stimmten Carl Van Vechten zu, der von der „bislang größten Leistung eines amerikanischen Komponisten“ sprach. In Anspielung auf Lincolns Geburtstag an diesem Datum nannte man die „Rhapsody In Blue“ gar die „Befreiung des Jazz aus der Sklaverei“.

Die Idee des Symphonic Jazz

Obwohl die Aeolian Hall ausverkauft war (man hätte angeblich zehnmal so viele Tickets verkaufen können), war die Sache finanziell ein herbes Verlustgeschäft. Doch Whiteman nahm das in Kauf. Er sah sein „Musik-Experiment“ als Investition in die Zukunft einer großen Idee. Seit Jahren propagierte er den „Symphonic Jazz“, die „Veredelung“ der rohen, noch ganz jungen Jazzklänge, um sie einer gehobenen (weißen) Hörerschaft schmackhaft zu machen. New York war der richtige Ort dafür. Hier gab es ein aufgeschlossenes, europäisch gebildetes Konzertpublikum, das von Jazz noch kaum eine Ahnung hatte – jedenfalls in den frühen 1920er Jahren. Hier konnte ein Mann wie Whiteman 1923 zum „King of Jazz“ ernannt werden. Er war der Herr über 25 Tanzorchester, die unter seinem Namen auftraten, galt als „größter Musiker aller Zeiten“, bestellte Werke bei Cole Porter oder Darius Milhaud und tourte erfolgreich auch durch Europa. Die „Rhapsody In Blue“ war ein wichtiger Schritt auf seinem Karriereweg.

Gershwin sagte nicht Nein

Gershwin
Foto: Carl Van Vechten / Library of Congress

Mit dem Komponisten George Gershwin waren Whiteman und sein Arrangeur Ferde Grofé schon eine Weile befreundet. Bereits 1921 hatte Whiteman mit seinem Orchester einen Bühnensong von Gershwin im Studio aufgenommen, im Folgejahr auch Gershwins Kurzoper „Blue Monday“ am Broadway dirigiert. Bei dieser Oper soll ihm das Talent des jungen, vom Jazz inspirierten Komponisten erst so richtig bewusst geworden sein. Whiteman fragte Gershwin, ob er ihm ein „Jazz Concerto“ für Klavier und Orchester liefern könne, und Gershwin sagte nicht Nein.

Allerdings war der Komponist ein viel beschäftigter Mensch, neigte zur Hyperaktivität und arbeitete ständig an Songs für mehrere Broadway-Shows gleichzeitig. Gelegentlich, wenn er einen kleinen Einfall hatte, machte Gershwin immerhin eine Notiz für das vage Projekt für Whiteman. Dennoch war er sehr überrascht, als er am 4. Januar 1924 in der New York Tribune über sich las: „George Gershwin is at work on a jazz concerto.“ Und da wurde auch schon der Termin für die Uraufführung genannt: in fünf Wochen.

Bei Mrs. Gershwin zum Tee

Gershwin, vermutlich leicht panisch, rief Whiteman an und handelte einen Kompromiss aus. Er werde kein mehrsätziges Klavierkonzert schreiben können, sagte Gershwin, sondern sich auf etwas formal Offenes, etwas Rhapsodisches beschränken. Und er werde keine Orchesterpartitur ausarbeiten können, wohl aber zwei Klavierparts: einen für den Solisten (sich selbst) und einen fürs Orchester. Daraufhin schickte Whiteman seinen Arrangeur Grofé zu Gershwin nach Hause – der 25-Jährige wohnte noch bei seinen Eltern. Grofé hat dort den zweiten Klavierpart – Seite um Seite, wie Gershwin ihn fertigstellte – direkt für die Band instrumentiert.

Die beiden verständigten sich nur kurz über die geeignete Klangfarbe, und Grofé notierte den Namen des für das jeweilige Instrument zuständigen Whiteman-Musikers. „Ich lebte praktisch in der Wohnung der Gershwins in Uptown, Ecke Amsterdam Avenue und 110. Straße“, erzählte Grofé später. „Ich fragte täglich nach neuen fertigen Seiten. Mrs. Gershwin verfolgte unsere Bemühungen mit liebevollem Interesse und brachte mich auf den Geschmack für russischen Tee.“   

Mit der Rhapsody in Blue soll Gershwin erst 5 Tage zuvor begonnen haben

Am 7. Januar 1924 soll Gershwin mit der Komposition begonnen haben. Zunächst dachte er daran, eine Blues-Form zu wählen, fand dann aber, dass sie ihn zu sehr einengen würde. Er wollte vielmehr beweisen, dass „Jazz“ an keine bestimmte Rhythmik, Taktart oder Form gebunden ist. Gershwins Bruder Ira, ein selbstloser Helfer, regte einen ruhigen Mittelteil an und suchte dafür auch ein passendes Thema aus Gershwins Skizzenheft. Durch diesen ruhigen Teil ähnelt die „Rhapsody In Blue“ doch ein wenig einem Konzert mit langsamem Mittelsatz.

Auch der Titel des Werks (George wollte es zuerst „American Rhapsody“ nennen) war ein Vorschlag von Ira. Er war dabei von den Bildern des Malers James McNeill Whistler inspiriert, die häufig Titel tragen wie „Arrangement in Grey and Black“ oder „Nocturne in Black and Gold“. Drei Wochen lang soll Gershwin komponiert haben. Am 4. Februar war auch Grofés Arrangement abgeschlossen, und am folgenden Tag, eine Woche vor dem Konzert, gab es eine erste Probe in einem Nachtclub, zu der mehrere Komponisten und Kritiker eingeladen wurden. Edwin Hughes sprach da schon von einer „neuen Ära der amerikanischen Musik“. Victor Herbert regte an, vor den Mittelteil ein Crescendo und eine Fermate zu stellen.  

Charmant unlogisch

Paul Whitemans Orchester, im Grunde die erste Jazz-Bigband, hatte damals 10 Bläser, darunter Henry Busse (Trompete) und Ross Gorman (Klarinette). Für das Konzert am 12. Februar wurde die Band aber auf insgesamt 32 Musiker erweitert – vor allem durch zusätzliche Streicher. Die bekanntere Version der „Rhapsody“ (für Klavier und volles Sinfonieorchester) sollte erst zwei Jahre später entstehen. Im Gegensatz dazu besitzt die Fassung der Uraufführung noch viel vom Jazzband-Klang der 1920er Jahre. Die bizarren Saxofonstellen, die Dämpfer- und Growltöne der Blechbläser, die Percussion-Farben und hektischen Charleston-Rhythmen drängen viel stärker in den Vordergrund. Die berühmteste Bläserstelle ist natürlich das Klarinetten-Glissando zu Beginn. Diese Stelle verlangt eine Mischung aus echtem Glissando (durch Tonbeugung) und gestuftem Glissando (also Portamento). Der Vergleich verschiedener Aufnahmen verrät: Jeder Solist findet hier eine eigene Lösung. In einer physikalischen Studie zu dieser Stelle heißt es: „Erfahrene Klarinettisten kombinieren ungewöhnliche Griffweisen mit noch ungewöhnlicheren Mundraumstellungen.“  

Assoziation “Jazz”

In der „Rhapsody In Blue“ gelingt es Gershwin, mit wenigen Signalen die Assoziation „Jazz“ hervorzurufen: mit verminderten Terzen und Septimen in der Melodie, mit synkopierten Rhythmen (z.B. die vorgezogene Eins), mit Triolen und Chromatik. Das New Yorker Publikum hat dieses Werk damals als „echten Jazz“ empfunden – dabei fehlt ja das Entscheidende, das Jazz ausmacht, nämlich die Improvisation. Allerdings verraten Klavierwalzen, dass Gershwin seinen Klavierpart deutlich unformalistischer und freier interpretiert hat, als man das heute bei Aufführungen zu hören bekommt. (Bei der Premiere 1924 war Gershwin sogar wirklich zum Improvisieren gezwungen, da er die Klavierstimme noch nicht beherrschte.) 

Erst ein Jahr später (1925) sollte der Trompeter Louis Armstrong nach New York kommen und im Fletcher Henderson Orchestra demonstrieren, was eine „swingende“, stringente Improvisation ausmacht. Die „Rhapsody“ dagegen erinnert formal eher an Gershwins lockeres Fantasieren auf einer Party, wenn er sich am Klavier von einem Einfall zum anderen hangelt – charmant, episodenhaft, aber ohne innere Logik. Diese quasi „improvisatorische“ Form der „Rhapsody“ – „mit allen Verdiensten und Nachteilen“ – hat auch Arnold Schönberg, Gershwins späterer Freund und Tennispartner, gewürdigt. Wohl am besten hat Leonard Bernstein den besonderen Charakter des Werks beschrieben: „Jede dieser ungeschickt verknüpften Episoden ist in sich melodisch inspiriert, harmonisch wahrhaftig und rhythmisch authentisch.“