Es ist die einfachste und archaischste Art, eine Luftsäule zum Klingen zu bringen: das Blasen auf die Kante eines Rohrs. Ein Schnabel mit Kernspalt kann dabei helfen, den Strom der Blasluft zu kanalisieren. Die Kernspaltflöte.
Durch die Brechung des Luftstroms an einer Rohrkante bilden sich kleine Wirbel und erzeugen damit Luftschwingungen im Rohr – so entsteht der Flötenklang. Das optimale Anblasen dieser “Brechkante” an einer Längs- oder Querflöte verlangt in der Regel eine besondere Mundstellung, manchmal auch eine besondere Haltung der Arme oder des Instruments. Einfacher geht es da mit einem kleinen Blasaufsatz, einem “Schnabel” oder “Block”, dessen Windkanal (Kernspalt) die Blasluft exakt auf die Kante lenkt. Diese Art von Flöte heißt daher Schnabel- oder Kernspaltflöte. Die Blockflöte ist die bei uns gebräuchlichste Form.
Die Blockflöte hat eine erstaunlich wechselvolle und interessante Geschichte. Entstanden um 1100, hieß sie anfangs “flûte à bec” (wegen ihres Schnabels) oder “flûte douce” (wegen ihres weichen Klangs). Schon in der Renaissance nannte man sie auch “fistula anglica”, die Englische Flöte, denn in Englands Adelskreisen war sie besonders populär. König Heinrich VIII. zum Beispiel war nicht nur berüchtigt für seine sechs Ehefrauen – er hinterließ auch eine bemerkenswerte Sammlung von 76 Blockflöten. In bis zu 21 Größen hat man die Blockflöte gebaut – bis hinunter zum Kontrabass-Register. Sie war ein vollwertiges Solo-Instrument, für das auch führende Komponisten der Barockzeit wie Bach, Händel, Telemann oder Vivaldi noch zahlreiche Werke schrieben. Erst als die Orchester größer wurden, setzte sich die klangstärkere Querflöte (“Deutsche Flöte”) durch. Die Wachablösung erfolgte etwa ums Jahr 1730 und war sehr gründlich. 100 Jahre später hatte man die Blockflöte nämlich praktisch vergessen.
Wiederentdeckung der Alten Musik
Erst mit der Wiederentdeckung der Alten Musik ab 1920 kam auch die Blockflöte zurück. Ihr “süßer”, durch den Kernspalt “verdünnter” Ton wirkte damals so ungewohnt und fremdartig, dass man ihn “objektiv” oder “unendlich” nannte. “Die Blockflöte ist Beginn und Symbol einer neuen instrumentalen Welt”, hieß es 1930. Weil das alt-neue Instrument handlich und leicht war und einfach zu blasen, eroberte es rasch die Wandervogel-Bewegung und die Musikpädagogik. (In den 1920er Jahren entwickelte man das “deutsche Fingersystem´” ohne Gabelgriffe.) Der Ruf, nur ein elementares Kinderspielzeug zu sein, hing der Blockflöte lange an. Doch dank großer Interpreten (z. B. Frans Brüggen, Michala Petri, Dorothee Oberlinger) und moderner Komponisten (z. B. Hindemith, Berio, Stockhausen) gilt die Blockflöte heute wieder so viel wie zur Barockzeit. Gelegentlich wird sie auch im Jazz eingesetzt.
Die Kernspaltflöte gibt es auf fast allen Kontinenten, darunter auch in Varianten mit Doppelkern oder Außenkern. Besondere Beachtung fanden die indonesische Suling (aus Bambus), die im Gamelan-Orchester zu Hause ist, und die “Indianerflöte” der nordamerikanischen Indigenen mit dem aufgesetzten “Reiter”. Auch in Osteuropa haben sich mehrere markante traditionelle Bauformen erhalten, sie heißen Fujara, Flojara, Furulya, Swirel oder Sopilka. Im europäischen Mittelalter entstand die Einhandflöte (Schwegel), die die zweite Hand frei ließ fürs Trommelspiel, aber auch das Gemshorn, das aus einem Tierhorn gefertigt wurde. Aus dem Flageolet des 16. Jahrhunderts ging später die irische Tin Whistle hervor (ein Blechrohr mit Plastikmundstück), die auch in Südafrika populär ist.
Die Trillerpfeife des Fußballschiedsrichters
Im 19. Jahrhundert, als die Blockflöte vorübergehend gar keine Rolle spielte, erfand man den Csakan, eingebaut in einen Spazierstock, sowie die italienische Gefäßflöte Ocarina, die aus Ton oder Porzellan gemacht wird. Zu den Kernspaltflöten zählt aber auch die Weidenpfeife oder Kolbenflöte, die statt Grifflöchern einen kleinen Zugkolben besitzt (“slide whistle”). Auch die Trillerpfeife des Fußballschiedsrichters funktioniert nach dem Prinzip der Schnabelflöte. Die größten Kernspalt-Instrumente (mit bis zu 2,50 m Länge) sind indes die Labialpfeifen der Kirchenorgel.
Bisher erschienen: “Stichwort Rohrblatt-Trio“, “Stichwort Saxofonquartett“, “Stichwort Marsyas” und “Stichwort Tristantrompete”, “Stichwort Naturtonreihe”, Stichwort Saxofonkonzert, Stichwort Sarrusofon, Stichwort Gucha, Stichwort Jazzsolo, Stichwort Orgel, Stichwort Posaune, Stichwort Multiphonics, Das Blechbläserquintett, Die Duduk. Die Aida-Trompete, Das Xaphoon, Der Rattenfänger, Der Zink, Die Sackpfeife, Der Hardbop, Das Flügelhorn, Der Stimmton, Die Windkapsel, Der Dämpfer, Das Flötenkonzert, Die Wagnertuba, Die Mundharmonika, Das Bathyfon, Die Musette